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80 Jahre Kriegsbeginn

Am 1. September vor 80 Jahren begann der 2. Weltkrieg. Reicht es mit der Aufarbeitung? Was hat das noch mit uns zu tun? Das unfassbare Grauen dieses Krieges wirkt noch bis in die zweite und dritte Generation hinein, so ist in wissenschaftlichen Arbeiten nachzulesen. Was die Überlebenden des Holocaust  an ihre Kinder weitergaben, zeigt die Arbeit „Transgenerationale Traumatisierung“, erstellt im Oktober 2016 von den wissenschaftlichen Diensten des Deutschen Bundestages. Dort ist nachzulesen, wie sich starke Kriegstraumatisierungen auf kommende Generationen auswirken können.

Als Täternation sind auch wir Deutschen immer noch mit der emotionalen Aufarbeitung beschäftigt. Schuld und Scham lähmten lange die emotionale Verarbeitung der eigenen Kriegserlebnisse. Das hat sich spätestens vor etwa zehn Jahren geändert. In Sabine Bodes „Kriegsenkel“ und in „Nebelkinder“, herausgegeben von Michael Schneider und Joachim Süss, las ich erstmals von „transgenerationaler Traumatisierung“ im Zusammenhang mit Kriegserlebnissen. Ein verunsichertes Lebensgefühl, unauflösbare Ängste und Blockaden sind, so Bode, häufige Anzeichen dafür.

Dass traumatische Kriegserlebnisse an darauffolgende Generationen weitergegeben werden können, bestätigen neurobiologische Befunde. Am 14.4.2014 stellte Werner Bartens in der SZ online Ergebnisse eines Forscherteams um Isabelle Mansuy an der ETH Zürich vor. Die Wissenschaftler fanden heraus, „dass extremer Stress, feindliche Lebensumstände und Traumatisierungen die Regulation in der Zelle beeinträchtigen. „‚Schlechte Erfahrungen hinterlassen Spuren im Gehirn, in den Organen und Keimzellen‘, sagt Mansuy. Über die Keimzellen werden diese dann weitervererbt.“  Das trifft natürlich nicht jeden, doch es ist gut, hinzugucken.

Ich wurde 1963 geboren. Das Besondere an der Generation der „Kriegsenkel“: unsere Eltern waren während des Krieges noch Kinder und konnten ihre Kriegserfahrungen nicht verbalisieren. „Hier handelt es sich um eine große Gruppe von Menschen, die in der Kindheit verheerende Erfahrungen machte, aber über Jahrzehnte eben nicht das Gefühl hatte, etwas besonders Schlimmes erlebt zu haben“ schreibt Sabine Bode in „Kriegsenkel“.

Darum fragt eure Eltern, solange sie noch da sind. Füllt die weißen Seiten ihrer Kriegszeit mit ihren Erinnerungen. Was haben sie im Bombenkrieg, in der Vertreibung, im Arbeitslager erlebt? Oder haben sie anderen Fürchterliches angetan? Sprechen kann helfen, manche Verhaltensweisen anders einzuordnen und zu verzeihen. Schweigen lässt die „Kriegsgespenster“ eher weiterwandern, in die nächste Generation.

Ich erzähle, also bin ich

Was macht uns aus: die Beziehung zur Familie, zum Freundeskreis, zur Arbeitswelt? Unsere Lieblingsbücher oder -filme? Das war einmal.  Zeitgenössische Psychologen sprechen schon lange von einem „postmodernen“, „pluralen“, „multiplen“ Selbst, das sich aus unterschiedlichen Interessen, Einstellungen und Lebensweisen zusammensetzt. Ein privates Profil auf Facebook, ein professionelles auf Xing. Dazu Tausende Likes und hochgeladene Videos, querbeet. Und Mitglied im Trachtenverein. Ergibt das noch eine Identität „aus einem Guss“? Und wenn nicht, wie beschreiben wir diese „Identität“? Müssen wir in Zukunft unsere Cookies befragen, wer wir sind?

„Kontinuität, mithin auch Identität, ist nichts Gegebenes, sondern etwas mit symbolischen Mitteln Erschaffenes, Konstruiertes und somit Vorläufiges, Zerbrechliches. Sie ist im Wesentlichen an die Retrospektive (….) gebunden“, schreibt der Bochumer Sozial- und Kulturpsychologe Professor Jürgen Straub. (s. Link).  Die Erfindung der eigenen Identität ist also ein schöpferischer Akt.

Wer Geschichten aus seinem Leben erzählt, erschafft damit seine Identität. „Der Akt des Erzählens verknüpft und synthetisiert, was zunächst nicht zusammengehört und zusammenzupassen scheint“, so Straub. Ende der 1980er Jahre ersann der französische Philosoph Paul Ricoeur den Begriff der „narrativen Identität“: Ich erzähle eine Geschichte, also bin ich. Für Ricoeur entstand die Identität von Menschen aus der gemeinsam erlebten Geschichte heraus, die sie sich einander erzählen.  Die Individuelle Identität war mit den Identitäten der anderen eng verbunden.

Gleichzeitig entwickelte der Sozialpsychologe Heiner Keupp die Vorstellung von der „Patchwork-Identität“. (s. Link)  Er beschrieb Identität nicht mehr im Sinne von „so bin ich“ als Ergebnis einer Entwicklung, sondern als lebenslangen  Prozess.

Und das bereits vor Google und Internet. Während in der „organisierten Moderne“ die Berufswahl noch als Lebensentscheidung gelte, sei deren Endgültigkeit in der krisenhaften Spätmoderne mit diversen Fragezeichen versehen, stellte der Münchner Diplompsychologe Dr. Wolfgang Kraus Ende des 20. Jahrhunderts fest.

Umso wichtiger erscheine es, sich in Zeiten ständiger Veränderung „einen Reim auf sich zu machen“. Dabei gehe es nicht mehr unbedingt darum, die einzelnen Geschichten in einen großen Zusammenhang zu bringen. In einer Biografie, die sich aus immer mehr einzelnen Identitätsprojekten zusammensetzt, gehe es mitunter schlicht um die „Zelebration der Möglichkeiten“ (s. Link). Das „happy end“ der Biografie ist dabei weniger Ziel als das Ausschöpfen der Möglichkeiten.

Den Nebel lichten

Am 8. Mai jährt sich das Ende des Zweiten Weltkrieges zum 72. Mal. Ich denke an millionenfaches Leid, bei  Opfern und „Tätern“ – zu denen wohl potenziell alle damaligen Soldaten der Deutschen Wehrmacht zählten. Ich denke auch an meine beiden Großväter, von denen ich einen nie kennenlernte, weil er in Italien fiel. Mein anderer Großvater kam als gebrochener Mann aus russischer Gefangenschaft zurück. Ich kann ihn heute nichts mehr fragen. Erst sehr spät bemerkte ich, welch weitreichende Spuren der Krieg in meiner Familie hinterlassen hatte.

Als meine Schwester mir das Buch „Nebelkinder“ schenkte, herausgegeben 2015 von Michael Schneider und Joachim Süss, berührten mich die dort beschriebenen Familiengeschichten sehr. Als Kriegsenkelin möchte ich das Buch gerne weiterempfehlen. Es zeigt, wie sich die Kriegsvergangenheit nebelgleich über die Familien legte. Zu wenig wurde  über die Erlebnisse des Krieges gesprochen, der immer noch das Leben zahlreicher Menschen belastet. Kriegstraumata übertrugen sich von vielen Eltern auf ihre Kinder, ohne dass sie es bemerkten. Die Prägekräfte unserer Eltern gingen nicht spurlos an uns vorbei. Doch die Menschen, die uns als Zeitzeugen noch Auskunft geben können, werden  immer weniger.

Ist es nicht endlich genug des Erinnerns? Sabine Bode kommentiert hierzu in der Einführung zu „Nebelkinder“: „Kein anderes Volk hat sich so selbstkritisch mit den Massenverbrechen seiner Vergangenheit auseinandergesetzt wie wir Deutschen… Stimmt. Doch die Aufarbeitung war vor allem eine akademische. Sie wurde den Historikern und den Publizisten überlassen (…) Seit einigen Jahren allerdings wächst das Interesse an einer wesentlichen Ergänzung zur akademischen Aufarbeitung, und zwar die emotionale Aufarbeitung. Hier steht die Altersgruppe der Kriegsenkel ganz vorn.“

Leben im Hier und Jetzt

„In der Gegenwart liegt das Geheimnis. Wenn Du der Gegenwart Beachtung schenkst, dann kannst Du sie verbessern“. (Paulo Coelho, Der Alchimist) Wir sind alle Abenteurer auf dem Weg zu unserem „Schatz“. Doch der alltägliche „Tunnelblick“ verhindert häufig, dass wir unserem „Schatzsucherinstinkt“ folgen. Gespräche mit Menschen, die uns begegnen, der offene Blick für das, was wir erleben – die Gegenwart bietet so Vieles. Lassen wir uns nicht von der Vergangenheit, der Zukunft und unseren Plänen ausbremsen!

Wie man es auch nennen mag – ob „Weltenseele“, „Schicksal“, oder „Zufall“, es wird sich etwas verändern, wenn wir unseren Blickwinkel verändern. Die Offenheit für neue Erfahrungen schrumpft zwar aus anthropologischer Sicht ab dem 40. Lebensjahr, doch das muss nicht so sein. Wir Menschen können uns in jedem Lebensalter auf den „Weisheitsweg“ begeben. Wir verlassen die sichere „Komfortzone“ und riskieren Schritte in neue Richtungen. Weil damit ein Risiko verbunden ist, beispielsweise lieb gewonnene Gewohnheiten oder Tätigkeiten aufzugeben, scheuen die meisten Menschen vor diesem Weg zurück und bleiben beim bereits Erreichten. Doch ist das Erreichte auch das, was wir erreichen wollten? Mehr dazu http://www.spiegel.de/karriere/persoenlichkeitsentwicklung-wie-sich-der-mensch-mit-der-zeit-veraendert-a-915309.html

Zu alt, um jung zu sein? Oder zu jung, um alt zu sein?

Wer ist alt, wer ist jung? „DAS“ Alter gibt es nicht. Alter ist eine Frage der Perspektive.  Für einen 100-Jährigen ist ein 80-Jähriger noch jung. Fest steht, dass unsere Gesellschaft altert, doch gleichzeitig fühlen sich Menschen jenseits des 65. Lebensjahres jünger als früher.

Viele der „jungen Alten“ , die heute zwischen 65 und 80 Jahre alt sind, erlitten zwar noch die Folgen des Krieges, wuchsen aber bereits in Wohlstand und Demokratie hinein. Frauen, die in den Nachkriegsjahren geboren wurden, erlebten als junge Erwachsene die 68er Revolution und die Befreiung vom tradierten Frauenbild. Wie gestalten diese „neuen Älterwerdenden“ ihr drittes und viertes Lebensalter?

Offenbar ist die Generation der heute 65- 85-Jährigen mit ihrem Leben sehr zufrieden, nur ein schwindend geringer Anteil empfindet das Leben als eintönig. Zu diesem Ergebnis kam 2012 eine Altersstudie im Auftrag eines großen Versicherers. Etwa neun von zehn Befragten gaben an, ihr Leben sei überwiegend abwechslungsreich. Zwei Drittel der Studienteilnehmer hatten einen festen Partner, drei Viertel waren Großeltern. Die Mehrzahl engagierte sich in der Familie und in politischen Projekten. Das bürgerschaftliche Engagement älterer Menschen „liegt mit 45  Prozent deutlich höher als beim Bevölkerungsdurchschnitt“, steht im Ergebnisbericht der Untersuchung.

2020 soll das bereits deutlich anders sein. Forscher sagen voraus, dass ein Drittel der Menschen über 65 weder Kinder noch Enkel haben wird. Es wird mehr elternreiche Kinder als kinderreiche Eltern geben. Seit etwa zehn Jahren reagieren Politiker auf diese Entwicklung. Städte und Gemeinden fördern generationenübergreifende Projekte, beispielsweise Generationenhäuser oder einen Großmutterservice. Nordrhein-Westfalen macht es vor. In einem Flyer stellt das Familienministerium generationenübergreifende Projekte vor:  Senioren-Mentoring, junge Paten, Gütersloher Generationentreff… Wie wäre es mit einem Gautinger Generationentreff?